Es ist Dienstag, 14. Oktober, und ich bin auf dem Weg zur Arbeit, um kurzfristig einen Kollegen zu vertreten. Gestern erst kam ich nach Hause von vier Tagen durchgehend Dienst, 96h, und entsprechend etwas erschöpft. Die Dienste liefen insgesamt gut, wenngleich es natürlich den einen oder anderen kleinen Wutanfall gab, zB am Donnerstag einen, weil ich beim Verlassen eines Cafés mit der Klientin ohne etwas zu bestellen dem Kellner meine Entschuldigung aussprach, während sie mit dem Service unzufrieden war. Anstrengend ist für mich diese Unberechenbarkeit, dazu die Irrationalität und intellektuelle Kurzsichtigkeit, nicht etwa die Pflege an sich. Im weiteren Verlauf dieses Tages waren wir auf einem kleinen Markt, bestehend aus fünf Ständen und eingerahmt von vier großen Bäumen in ihrem bunten Herbstlaub, dort verweilten wir etwas und genossen bei Kaffee und Gebäck die angenehme Herbstsonne. Die Stimmung war schön und ich fragte mich, ob ein solcher Markt vor 500 Jahren, vor 1000 Jahren, vor 5000 Jahren auch schon in schöner Stimmung die Menschen zum Verweilen und Plausch eingeladen hätte, wie die Menschen, der Markt, ihre Kleidung und Einrichtung ausgesehen und über welche Themen sie geplaudert haben mögen. Mir kam es so vor, dass die Unterschiede nur oberflächlicher Natur, nur in Details gewesen wären.
Mir gefällt es, mich in fremde Zeiten hineinzuversetzen und mir vorzustellen, dies wäre meine normale Jetzt-Zeit. Mir gefällt diese Vorstellung nicht nur mit fremden Zeiten, sondern auch mit fremden Orten, fremden Gebräuchen und Kulturen und auch mit fremden Menschen, also mich jeweils darin hineinzuversetzen, wie es wäre, dies jeweils als Normalität, nicht als exotisch zu erfahren und trotzdem in seiner Normalität auch zu hinterfragen, so ähnlich, wie ich es auch mit der Normalität mache, oder zumindest versuche, die mir zueigen ist. In einem offenen Bücherschrank fand ich ein Buch, "Begegnung mit dem Genius", in dem der Autor versucht, einen Genius-Begriff zu entwickeln, wobei er immer zwei historische Personen wählt, Protagonist und Antagonist, zB Caesar und Brutus, Kaiser Heinrich und Papst Gregor bis hin zu Wagner und Nietzsche (als Zeitgenosse Einsteins geht er seltsamerweise nicht auf Einstein ein). An seinen Darstellungen gefällt mir, wie er diese historischen Personen und ihre Bedeutung, ihren Genius so nachvollziehbar Nähe rückt, dass ich mir recht leicht vorstellen kann, wie es wäre, in deren Zeit gelebt und als einfacher Bürger ihr Handeln wahrgenommen zu haben. Und mir gefällt es auch, meine Jetzt-Zeit so zu betrachten, als wäre ich ein Mensch vielleicht 500, vielleicht 1000 Jahre in der Zukunft, der über die jetzige Zeit aus Büchern und Dokumentationen erfährt und der unsere Zeit als Teil eines Zeitstroms mit dem Mittelalter sieht, als Teil der "alten Zeit", alles heute, was wir für neu und modern halten, und für den Autos eine Kategorie mit Kutschen sind, Smartphones eine mit Schwarzweiß-Röhrenfernsehern, Digitalisierung nur eine Fortsetzung des Buchdrucks usw. Wir neigen wohl dazu, zumindest spüre ich das bei mir selbst, unsere Jetzt-Zeit als gut, richtig und modern zu halten, auch unsere Kultur und Politik gerechtfertigt zu empfinden, unsere Moral als jeder anderen Moral überlegen. Ein solches Empfinden halte ich für chauvinistisch, die automatische Geringerschätzung alles Anderen, "Fremden" halte ich für Othering, und wenn dies das Handeln leitet, haben wir Diskriminierung.
Dieser Tage hatte ich einen Traum, eigentlich war es ein Wachtraum, aber er kam mir morgens während des Aufwachens: Ein Mann wird in einem dunklen Raum zärtlich-intimen Begegnungen ausgesetzt, bei denen er sein Gegenüber nicht sehen kann, und auch die Zärtlichkeiten sind derart, dass er daraus nicht ableiten kann, welches Alter, Ethnie und Aussehen sein Gegenüber hat. Es ist leicht vorstellbar, dass er dabei die zärtlich-intime Begegnung in vollen Zügen und mit großer Lust genießt und, wenn man das Licht einschaltet, er die gleiche Person plötzlich heftig zurückweisen würde. Die Szenarien lassen sich natürlich auch beliebig abändern, zB könnte man ihn eine solche Begegnung mit einem anderen Mann genießen lassen etc. Mit zeigte dieser Traum, dass wir viel zu schnell urteilen, zB nach Optik und anderen Vorstellungen, dass wir Muster entwickelt haben, nach denen wir Menschen uns nah und uns fern sehen, uns ihnen nah oder fern empfinden, Sympathie und Antipathie bzw. Othering. Dass unser Gehirn unsere Wahrnehmungen, Empfindungen und Erfahrungen nach Mustern ordnet, die es wiederzuerkennen versucht, dient vor allem dazu, möglichst kollisionsarm durch den Alltag zu kommen und kann insbesondere nichts darüber aussagen, wie die Dinge, die Wahrnehmung, Empfindung, Erfahrung ursprünglich auslösen, tatsächlich sind; wir wissen nur, wie sie uns erscheinen. Und diese einstmals erstellten Muster, die unserem Gehirn eingeprägt wurden, lassen sich auch tatsächlich verlernen, ändern, zurücksetzen. Ein Versuch, mit dem man dies auch an sich selbst ausprobieren kann, geht zB über eine Umkehrbrille, die anstelle von Linsen Prismen zum Durchschauen hat. Trägt man diese Brille, steht alles, was man sieht, vermeintlich auf dem Kopf. Trägt man sie länger, gewöhnt man sich an diese Sicht und irgendwann, bereits nach wenigen Tagen, normalisiert sie sich so weit, dass wenn man die Brille dann absetzt, alles was man sieht vermeintlich auf dem Kopf steht und es eine neue Gewöhnung braucht. Weil sich unser Gehirn an beide Situationen gewöhnen und sie zu einer Normalität entwickeln kann, ist es uns nicht möglich zu entscheiden, welche denn die richtige ist - es wäre billig, einfach diejenige, die wir länger kennen, für die richtige zu halten, selbst wenn wir dazu neigen quasi intuitiv dies zu tun. Dies gilt natürlich nicht nur dafür, Dinge vermeintlich auf dem Kopf zu sehen, sondern für jeden anderen Sinneseindruck genauso, beim Sehen, Hören, Schmecken usw. und wohl auch für jedes Empfinden und für jede Erfahrung. Und in diesem Zusammenhang muss man natürlich auch hinterfragen, wonach man seine Mitmenschen, ihre Erscheinung und ihre Gewohnheiten sowie andere Zeiten und Kulturen beurteilt, und kann gerne immer wieder versuchen, sich neu auch auf das einzulassen, wozu man keine unmittelbare Sympathie empfindet, und sich einfach unvoreingenommen überraschen lassen.
Inzwischen ist Mittwoch, 15. Oktober, und aus der einen Vertretungsschicht wurde eine zweite, damit komme ich auf 240h diesen Monat und auf 216h innerhalb von elf Tagen: vier Tage Dienst, die sind schon vorüber, ein Tag Pause, das war am Montag, dann gestern und heute wieder zwei Tage Dienst, morgen wieder ein Tag Pause und dann ab Freitag noch einmal drei Tage Dienst. Während des vergangenen Dienstes von vier Tagen war ich jeden Tag mit der Klientin draußen unterwegs, einmal sogar mit ihrem neuen Auto an einem nahegelegenen Weiher spazieren. Wie schon erwähnt, gab es gelegentliche kleinere unvorhersehbare Ausbrüche, insgesamt war aber alles gut. Am Montag dann hatte ich nachmittags einen Termin bei meinem Anwalt, der mir eine schwindelerregende Rechnung geschrieben und ansonsten die nächste Strategie entwickelt hat. Die Gegenseite ist nun in Zugzwang. Und auch wenn mir seine Rechnung weh tut, kann ich es mir ja streng genommen finanziell gut leisten. Der Punkt ist nur, dass ich mein Geld lieber anderweitig investieren möchte und dass es mir weh tut, dass er in einer Arbeitsstunde so viel berechnet wie ich an einem ganzen Tag bekomme. Das ist aber vielleicht weniger seine Schuld als vielmehr meine eigene, dass ich meine Zeit und Energie so billig verkaufe. Vor einigen Wochen war ich ja bereits an einem solchen Punkt, wo ich meine berufliche Perspektive ändern wollte. Daraus wurde zunächst nichts. Nichts wurde auch sonst aus dem restlichen Montag. Ich verbrachte ihn überwiegend faul zuhause, fand aber auch, dass das nach vier Tagen Dienst so sein dürfe.
Während der beiden Vertretungsschichten, also gestern und heute, habe ich das Gefühl, geht die Klientin schonend mit mir um, vielleicht, weil sie mich schon viele Tage beansprucht hat und weil ich jetzt ja nur vertretungsweise hier bin. Vor allem bin ich viel mit dem Hund draußen. Er hat eine gute Nase nimmt mit ihr manchmal Witterung auf von Dingen, die ich nicht sehen kann. Oft ist es aber auch umgekehrt, dass ich andere Hunde sehe, teils auch recht nahe, nur mit einer Hecke oder einem Auto getrennt von mir mit Hund, und es scheint mir, die Hunde, solange nicht geruchlich sich wahrnehmend, bekommen nichts voneinander mit. Während ich das beobachte, frage ich mich, wie viel ich selbst, bzw. jedes einzelne Individuum nicht merkt von den Dingen, die unmittelbar um uns geschehen, für die aber unsere Sinne nicht eingerichtet sind, und was wir als Menschheit alles nicht merken.
Außerdem hatte ich während des letzten Blocks aus vier Arbeitstagen damit begonnen, angeregt durch die Überlegungen meines Ingenieur-Freundes, wie ich mein Projekt Behausung entwickeln würde, zB mit einem Brainstorming: Das, was ich als Behausung betrachte, soll vor allem ausreichend Schutz bieten vor Gefahren für Leib und Leben, über viele Tage hinweg gut erholsamen Schlaf ermöglichen und als Rückzugsort eine gewisse Behaglichkeit aufweisen. Solange diese Standards erreicht sind, möchte ich nun meine Behausung möglichst versatil, vielfältig einsetzbar, mobil zu Land und zu Wasser. Sie soll günstig sein, bestenfalls aus Recyclingmaterialien, die überall gefunden werden können, soll niederschwellig für Herstellung und Instandhaltung sein, minimalistisch und Low Tech, also ohne kompliziertes Spezialwerkzeug und Fachwissen betrieben werden können, soll entweder für etwa fünf Personen längerfristig, oder segmentierbar, also als kombinierbare Einzeleinheit für eine Person plus Gast geeignet sein. Halbwegs wichtig wäre mir dann noch, dass eine solche Behausung nicht zu sehr für Irritation in der Umgebung sorgt und insbesondere nicht den Eindruck von Verwahrlosung macht.
Unter diesen Punkten sind natürlich einige, die einander widersprechen, zB je versatil beweglicher, desto weniger stabil, je günstiger, desto "billiger" auch im Sinne von leicht verwahrlost aussehend usw. Ich brauche keine harte Stabilität von Beton oder dicken Baumstämmen, aber vor schweren Unwettern soll die Behausung zuverlässig schützen. Auf der Grundlage stabiler Textilien in doppelter oder dreifacher Lage wäre das auch erreichbar. Schutz vor großen Tieren erreicht man wohl durch Ablenkung: Essen und andere interessante Vorräte lagert man besser extern an einem anderen Ort. Schutz vor kleinen Tieren, zB Insekten, erreicht man wohl am besten durch Duftstoffe, die diese kleinen Tiere nicht mögen. Ansonsten bestünde auch die Möglichkeit, sich vor etlichen Tieren außer Reichweite zB auf dem Wasser oder an Bäumen hängend, zurückzuziehen. Schutz vor anderen Menschen, wahrscheinlich die größte Gefahr, erreicht man wahrscheinlich nur durch Tarnung, dadurch, nicht von ihnen gefunden zu werden, wobei diesbezüglich ausreichend sein dürfte, nicht gesehen und gehört zu werden. Aktiver Schutz durch Verteidigung kann natürlich auch noch erwägt werden, sollte aber wohl nachrangig sein. Ein Gebilde aus Textilien lässt sich gut tarnen, auch auf Bäume hochziehen, zB als eine Art Hängematte, sollte zur Schwimmfähigkeit allerdings Auftriebskörper haben, da mir eine Skin-on-Frame-Konstruktion zu unzuverlässig wäre, wenn sie kentert oder ein Loch bekommt. Wenn ich an Textilien und Auftriebskörper denke, an Recycling und Versatilität, dann bin ich schnell bei meiner Velo-Proa aus Flaschen, Netzen, Planen und Zeltstangen und als Mikrovariante davon bei meinem Nomaden-Anzug mit ein paar Flaschen integriert sowohl als wasserdichte Behälter als auch als Auftriebskörper.
Ich scheine mich im Kreis zu drehen, denn bei diesen beiden Produkten war ich ja bereits vor einem Jahr, habe sie aber noch nicht zuende gedacht, geschweige denn vernünftig zu bauen begonnen. Dabei wächst in mir immer mehr der Wunsch, unabhängig nomadisch zu leben und verschiedene Lebensräume und Kulturen zu erfahren. Gleichzeitig frage ich mich, möchte ich nomadisch wandern immer weiter und weiter, oder möchte ich bleiben, wo es bequem und schön ist und wo es "warm raus kommt"? Einerseits erinnere ich mich da an ein Pärchen mit Camper, das ursprünglich eine große Reiseroute geplant hatte mit vielen zu besuchenden Orten und letztlich, als ein Ort wunderschön war, dort blieb und auf die weiteren Orte verzichtete, andererseits denke ich an meine Erörterungen hier vor einigen Wochen, dass Bequemlichkeit zu suchen meist ein Irrtum ist. Und wenn ich an tatsächliche Nomadenkulturen denke, stelle ich mir vor, dass sie oft nicht des Wanderns wegen, sondern wegen harter Überlebensbedingungen, meist wegen Nahrung und Klima, auf Wanderschaft gingen, oft so weit, bis die Bedingungen wieder bequemer waren. Wahrscheinlich wird es mir genügen, mich an verschiedenen Orten für eine gewisse Zeit niederzulassen und mich dort in Abstimmung mit den Bedingungen der Umgebung zu einem gewissen Grad sicher bis behaglich einzurichten und nach einer gewissen Zeit wieder auf den Weg zu machen. Hierbei dürfen die Bedingungen der Umgebung durchaus auch herausfordernd sein, wenngleich nicht unmittelbar für Leib und Leben gefährlich, wobei man ja annehmen kann, dass mit meiner zunehmenden Erfahrung nach und nach größere Herausforderungen möglich sind. Dies zu dokumentieren und davon zu berichten, das würde mir gefallen.
Bleibt noch der Ausblick auf die kommenden Tage: Mein derzeitiger Arbeitseinsatz endet am kommenden Vormittag, dann direkt im Anschluss habe ich ein Therapiegespräch, hole Bücher für mein Kind aus der Bibliothek und gebe sie der Großmutter, treffe mich mit einer Person von Couchsurfing, mache abends eine Essensverteilung und hole irgendwann am Abend auch noch etwas vom MakerSpace ab, ein digitales Zeichenbrett, mit dem ich mich mit meinen Zeichnungen versuchen möchte, sie vielleicht vektorbasiert anlegen zur besseren Animation. Freitag kommt der dreitägige Arbeitseinsatz bis Montag, dann habe ich mein Kind für eine Woche Herbstferien, in der ich zum Boot und zu meiner Familie fahren wollte, wahrscheinlich mit meinem Auto. Allerdings wird aus der Bootsfahrt wahrscheinlich nichts, denn das Schiffshebewerk, das ich meinem Kind vorführen wollte, wurde im September beschädigt und ist seitdem bis auf unbestimmte Zeit gesperrt, Durchkommen nicht möglich, es sei denn man krant auf einen Anhänger, was möglicherweise viel zu aufwendig ist. Ansonsten muss wohl bis April gewartet werden, bedauerlicherweise. Sonntag besuchen wir eine Physikshow. Nach der Herbstferienwoche hätte ich weitere Tage für die Bootsfahrt frei gehabt. Die werde ich nun anders nutzen müssen. Für November ist der Dienstplan noch ausstehend und auch die Steuerrückzahlung lässt noch auf sich warten.
Soweit...
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