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Trautes Heim 1) 12.-14. November

1) 12.-14. November 

“Arschloch! Du Arschloch! Und das meine ich ernst. Das kannst Du Dir ruhig zu Herzen nehmen. Ihr seid alle Arschlöcher! Auch Thomas und Jens. - Schaaatz? Komm bitte und mach Du weiter!”
Viktoria zitterte am ganzen Leib. Sie hatte Henrik, ihren Assistenten für heute, zu sich gerufen, damit er sie auf Toilette begleite. Er hatte, wie üblich und selbstverständlich, augenblicklich unterbrochen, womit er beschäftigt war - er hatte Informationen im Internet gelesen über den kürzlich neu gewählten Präsidenten der USA und die von ihm zu erwartenden Entscheidungen bezüglich internationaler Politik insbesondere für Deutschland, Ukraine und Naher Osten. Allerdings - das hatte Henrik eigentlich schon erwartet - war außer Spekulationen nicht viel in den Artikeln enthalten, denn Trump als neuer alter Präsident galt als unberechenbar und Vorhersagen hatten den Charakter von Kaffeesatzleserei. Diese Lektüre jedenfalls hatte Henrik unterbrochen, als Viktoria nach ihm gerufen hatte, weil sie auf Toilette gehen wollte. Er hatte “ich komme” und “sehr gerne” geantwortet, den Lifter aus dem Schlafzimmer geholt und sich damit ins Wohnzimmer begeben. “Kannst Du mich obenrum schon mal umziehen?” hatte sie gefragt und er hatte erneut “sehr gerne” geantwortet, war zunächst ins Bad gegangen, wo üblicherweise ihr Nachthemd hing, und hatte dann, nachdem er dort keines fand, ein neues aus ihrem Schrank im Schlafzimmer geholt. Er hatte sie in ihrem E-Rollstuhl obenrum entkleidet, ihr das Nachthemd angezogen, ihr dann untenrum die Hosen heruntergezogen und setzte dazu an, sie mit dem Gurt für den Lifter vorzubereiten. 
“Was machst Du!? Warum ziehst Du mich nicht fertig um!?” hatte sie mit wütender Stimme gefragt. “Das hattest Du nicht gesagt”, war Henriks Antwort. “Arschloch! Du Arschloch! …” ging darauf ihre Schimpftirade los. Paul, ihr Partner, musste die Pflege fortsetzen, sichtlich verärgert, denn eigentlich wollte er sich ausruhen nach einem anstrengenden Tag in der Werkstatt. Henrik räumte solange das Abendessen auf, einerseits verärgert, weil er sich keiner Schuld bewusst war und unabhängig davon das Thema Beleidigungen bei der Arbeit bereits nach einem vorhergehenden Fall Gegenstand einer Beschwerde seinerseits beim Arbeitgeber war, anderseits, um durch Nützlichmachen irgendwie zu versuchen, die Wogen zu glätten.
Währenddessen bekam er unfreiwillig einige Gesprächsfetzen zwischen Viktoria und Paul aus dem Bad mit. Was denn vorgefallen sei und ob diese Szene nötig gewesen sei, glaubte Henrik von Paul zu vernehmen. Henrik müsse doch klar sein, dass sie ins Bett wolle, meinte Viktoria. Er habe das bestimmt absichtlich gemacht. Ob sie denn gesagt habe, dass sie ins Bett wolle, erkundigte sich Paul bei ihr. Nein, meinte sie, aber wo solle sie denn sonst hin wollen, antwortete sie mit einer Gegenfrage. Auch wenn ihr Gespräch noch weiter ging, teils lauter wurde, konnte Henrik nichts weiter verstehen und wollte dies auch gar nicht. Demonstrativ öffnete er geräuschvoll den Wasserhahn und klapperte mit dem Geschirr, während er den Abwasch machte. Auch im Schlafzimmer gingen ihre Gespräche weiter, aber auch davon bekam er inhaltlich nichts mehr mit, auch nicht, als er sich im Zimmer daneben zu Bett begab.
Er nahm seinen Ärger mit ins Bett. Er schilderte den Fall, wie vor einigen Wochen schon einmal, der Teamleitung. Die Klientin, Viktoria, erwarte, ja fordere sogar ausdrücklich von ihren Assistenten, dass sie sich bei der Assistenz darauf besinnen, dass sie hier an einem Arbeitsplatz seien und nicht gewissermaßen als Freunde gewissermaßen in einer WG mit ihr, wie das möglicherweise in anderen Assistenzsituationen bei anderen Klient:innen so sein könnte. Sie hatte in diesem Bewusstsein sogar erst kürzlich ein Schild an die Zimmertür der Assistenten gehängt: “Ab hier beginnt Dein Arbeitsplatz”. Und er, Henrik, meine ausdrücklich, dass diese Erwartung an einen Arbeitsplatz keine Einbahnstraße sei, dass also sie, Viktoria, sich ebenfalls an diverse Regeln zu halten habe und insbesondere als Weisungsperson, die sie als Klientin war, also gewissermaßen als Vorgesetzte, die bei ihr arbeitenden Angestellten nicht zu beleidigen habe. Henrik äußerte der Teamleitung gegenüber, dass er, sollten sich solche Vorfälle häufen, sich genötigt sehe, Viktoria wegen Beleidigung am Arbeitsplatz anzuzeigen.
Besonders enttäuscht war Henrik vor allem deswegen, weil er eigentlich ein halbwegs freundschaftliches Verhältnis mit Viktoria pflegte. Erst vorige Woche hatte er mehrere Stunden seiner Freizeit für sie geopfert, gerne, und hatte sie einen Abend privat begleitet, solange ihr Partner bei einer Sportveranstaltung war. Er hatte ihr regelmäßig Kleinigkeiten zB vom Bäcker mitgebracht. Al dies, so schwor er sich, wolle er für die Zukunft deutlich zurückfahren, vor allem seine Zeit nur noch beruflich ihr widmen.
Nach einiger Zeit klang sein Ärger ab und er schlief ruhig ein.
Am nächsten Morgen, möglicherweise hatte die Teamleitung schon Kontakt zur Klientin aufgenommen, gab es ein klärendes Gespräch. Zunächst, als Henrik wach wurde, vernahm er aus Viktorias Schlafzimmer, wie sie mit Paul über die Geschehnisse des vorigen Abends sprach. Bald riefen die beiden Henrik zu sich. Sie versuchten gemeinsam die Abläufe des vorigen Abends zu rekonstruieren, wobei Henrik vor allem aufmerksam ihren Ausführungen zuhörte und nur hier und da Details hinzufügte. Vor allem aus Pauls Rekapitulation wurde Viktoria vor Augen geführt, dass Henrik nichts falsches getan hatte, sondern dass Viktorias Anweisungen unklar waren und die Assistenten sich ja ausdrücklich an die Anweisungen halten und eben nicht eigene Interpretationen hineinfließen lassen sollen. Henrik bestätigte, es ihn seinem Verständnis nach nichts angehe, was Viktoria mit ihren Anweisungen letztlich bezwecke oder ob sie für ihn selbst Sinn ergeben, also dass er darin ein grundsätzliches Prinzip persönlicher Assistenz sehe, was von Paul anerkennend bestätigt wurde. Viktoria versuchte zwar noch einmal darzustellen, dass Henrik sich hätte denken können, dass außer ins Bett zu gehen wohl keine anderen Handlungen für den Abend infrage kamen, doch Paul meinte, das hätte sie dann doch wie sonst auch immer einfach nur zu sagen brauchen. Und weiter meinte sie, hätte Henrik bei Unklarheit ihrer Anweisungen doch nachfragen können, doch Henrik antwortete, dass ihre Anweisung ja für ihn klar gewesen sei, dass also kein Grund für ihn bestand, nachzufragen, und er ansonsten ihre Intentionen nicht hinterfragen würde. Damit gab sie sich offenbar geschlagen. Sie äußerte, dass sie bedauern würde, wenn Henrik wegen des Vorfalls die Arbeit bei ihr kündigen würde, wo sich Henrik aber beeilte ihr zu versichern, dass das für ihn nicht wirklich zur Diskussion stand. Die Wogen begannen sich zu glätten, Viktoria bot eine Umarmung an, die sich für Henrik zwar etwas unpassend vorkam, die er aber gern erwiderte. Um sich zu vergewissern, fragte Henrik, ob sie verstanden habe, worum es ihm denn ginge, und sie antwortete, dass er sich wohl klarere Anweisungen wünsche. Das sei sicherlich hilfreich, meinte er, aber sein Punkt sei ein anderer, nämlich dass er bei der Arbeit nicht beleidigt zu werden wünsche, und zwar unabhängig davon, ob er einen Arbeitsschritt richtig oder falsch mache, und streng genommen wünsche er sich dies natürlich auch für die Kollegen. Sie bat, seiner Ansicht nach etwas halbherzig, um Entschuldigung und er beschloss, zu Gunsten des wieder einkehrenden Friedens die Sache zunächst auf sich bewenden zu lassen.
Danach lief die Morgenroutine wie gewohnt ab. Er holte sie mit dem Lifter aus dem Bett, brachte sie damit auf die Toilette und danach auf den Duschstuhl, entkleidete und duschte sie inklusive Haarpflege, trocknete sie ab, brachte sie erneut mit dem Lifter auf die Toilette und danach in ihren Rollstuhl, wo er sie ankleidete, ihr die Haare föhnte und ihr Parfum und Gesichtscreme auftrug. Dann war sie bereit fürs Frühstück. Er eilte flugs zum Bäcker nebenan, um für sich selbst Gebäck zum Frühstücken zu holen, und brachte ihr ein paar Plätzchen, Zimtsterne, mit. Dann machte er ihr Kaffee und für sich auch und sie frühstückten. Sie hatte ein von Paul vorbereitetes Brötchen, das er ihr liebevoll belegt hatte, mit Leberwurst und in Herzform geschnittenen Zwiebelscheiben, bevor er zu seiner Arbeit und sie zum Duschen gingen. 
Das Tischgespräch drehte sich um alltägliche Themen, um den Hund Benno sowie um die Assistenz, wobei es hier insbesondere um Henriks Kollegen ging und welche Schwierigkeiten sie mit ihnen hatte. Henrik hielt sich wie immer weitestgehend zurück, insbesondere versuchte er, eine neutrale, vermittelnde Position zu finden, in der er sowohl Viktoria in ihrer Lage bestätigen als auch die Kollegen einigermaßen in Schutz nehmen konnte. Das war zwar nicht immer einfach, denn zu viel Kollegen in Schutz nehmen konnte Viktoria leicht verärgern und aufregen, andererseits wollte Henrik natürlich auch nicht seinen Kollegen in den Rücken fallen, schlecht über sie reden und auch nicht allzusehr bestätigen, wenn jemand anderes schlecht über sie herzog. 
Allerdings hatte Henrik in den über vier Jahren, die er schon bei Viktoria arbeitete, diesbezüglich genügend diplomatisches Fingerspitzengefühl entwickeln können, so dass diese Gespräche, so stellte er sich das vor, für Viktoria wohltuend sein könnten, da sie sich wahrgenommen fühlte und er gleichzeitig große Probleme, die sie sah, durch beschwichtigen verkleinern zu können glaubte. Darüber hinaus wusste er aus Erfahrung, dass auch nicht immer alles bare Münze war, was sie erzählte, denn teilweise, so hatte er gelernt, hatte sie wohl eine leichte Wahrnehmungsstörung derart, dass ihre eigene Position immer vorteilhaft gegenüber der von anderen sein musste, zwanghaft quasi, so dass sie verschiedene Situationen für sich so hinbog, schlechthin "zurecht log", so dass grundsätzlich andere schuld waren oder sie besonders positiv dastand. 
Manche wenige ihrer Äußerungen waren auch dreist komplett erlogen. Er wusste das ganz sicher, da er bereits öfter Zeuge sowohl einer bestimmten Situation wie auch ihrer nachträglichen Erzählung darüber war. Als Angestellter mit Schweigepflicht hatte er sich zwar im Innern heftigst gewundert, aber nach außen hin nichts dazu gesagt. Als Assistent ging ihn das nichts an und hatte er seine privaten moralischen Bedenken für sich zu behalten. Außerdem habe, so sagte er sich, Viktoria genauso wie jeder andere Mensch das Recht über verschiedene Begebenheiten zu lügen, und nur weil sie zwangsläufig ständig in Begleitung einer Person war, sollte dieses Recht natürlich nicht eingeschränkt sein. 
Damit im Hinterkopf, nahm Henrik von vornherein nicht alles bitterernst, was sie so äußerte über die Kollegen oder auch über ihren Partner Paul und über weitere Menschen ihres Umfelds, denn sie redete gerne mit allen möglichen Menschen über alle möglichen Menschen in ihrem Umfeld. Henrik war sich klar, dass auch er Gesprächsthema sein würde, und wohl auch nicht immer positiv, wobei er gelernt hatte, dass sie inzwischen sehr große Stücke auf ihn hielt und ihn möglicherweise öfter den Kollegen gegenüber als positives Beispiel angab, dem sie doch bitte folgen sollten - zumindest hatte sie noch vor einiger Zeit Henrik gegenüber andere Kollegen als positives Beispiel genannt mit der Aufforderung, er solle doch dieses und jenes wie der und der tun. Der Gedanke, nun für andere gutes Beispiel zu sein, schmeichelte ihm weniger als dass ihm das peinlich war. Außerdem stellte er sich vor, dass seine Kollegen ihn deswegen nicht besser schätzten, sondern möglicherweise sogar im Gegenteil kaum mochten, weil er ihnen wohl hin und wieder in Situationen, in denen sie Schwierigkeiten hatten, vor die Nase geführt wurde.
Der Dienst verlief nach dem Frühstück im Ganzen ruhig. Einige Toilettengänge und Handreichungen für Viktoria, ein paar Mal mit dem Hund Gassi gehen, die trockene Wäsche von der Leine nehmen und zusammen legen und das Wohnzimmer fegen, die übrige Zeit im Assistenzzimmer, dann war schon Abend. Viktoria hatte sich zum Abendessen Flädlesuppe mit Fleisch gewünscht, die Henrik ihr nun zubereitete, eng nach Rezept, da er wusste, wie pingelig sie mit Essen war. Er war zwar selbst weitestgehend vegetarisch bis vegan orientiert, doch in diesem Fall ging es nicht um ihn, als er das Rindfleisch vom Knochen und in Würfel schnitt. Zusammen mit dem klein geschnittene Suppengrün ließ er es lange im Suppentopf köcheln. Zwiebeln und Gewürze gab er hinzu und bei alledem, bereits beim Fleisch, schnitt er sich leider auch in den Zeigefinger, nicht groß, nicht tief, nicht schmerzhaft, aber doch auf eine Weise, dass die Blutung nicht stoppen wollte und er ein Pflaster verwenden musste, natürlich allein schon wegen der Hygiene. Dann aber ging es munter weiter, er machte einige Pfannkuchen, rollte sie und schnitt sie in Streifen, gab davon einige, inzwischen war Paul von der Arbeit zurück gekommen, in zwei Suppenteller und jeweils eine große Kelle der Suppe darüber. Ihren Äußerungen nach schien es den beiden zu schmecken. Gelegentlich luden die beiden die Assistenz zum Mitessen ein, diesmal war dem aber nicht so, also nahm er sich seine Instantnudeln vor, gab etwas Suppennudeln dazu, und übergoss alles in einem kleinen Topf mit heißem Wasser.
Während Viktoria und Paul nach dem Essen den Abend ausklingen ließen, räumte Henrik den Tisch ab und begann abzuspülen. In solchen Momenten versuchte er sich vorzustellen, wie es wohl in früheren und womöglich auch heutigen Haushalten der Oberschicht war, in der Dienstboten und Butler die Tätigkeiten ausübten, die er als Assistent machte, während die “Herrschaften” daneben saßen und sich bedienen ließen. Überall am Rande dabei, allerdings nicht privat, und von den Genüssen der Herrschaften nichts oder maximal Reste abzubekommen, ja, da kann man sich schnell mal als Mensch zweiter Klasse fühlen, meinte Henrik. Dass die Assistenten nicht mit ihr auf Augenhöhe seien sondern für sie arbeiteten, das betonte Viktoria ja auch nicht selten; das sei keine WG und die Assistenten keine Freunde, zumindest nicht zwangsläufig. Streng genommen hatte sie damit ja recht, dennoch meinte Henrik, allerdings ohne dies anzusprechen, dass zwischen persönlicher Assistenz und Bedienung bzw einem Butler ein Unterschied sei. Zum Einen hielt er das mit dem Klassenunterschied für falsch - nun gut, es war ja nur seine subjektive Empfindung, dass ein Klassenunterschied bestehe, doch einiges an den Äußerungen und Anweisungen Viktorias und durchaus auch Pauls, denn er sprach gelegentlich in ihrem Namen, ließen doch recht eindeutig die fehlende Augenhöhe, den Klassenunterschied spürbar werden - , zum Anderen, meinte er, sei die persönliche Assistenz nicht pauschal zum Bedienen da, sondern zum Unterstützen in den Situationen, in denen es aufgrund der Körperbehinderung Viktorias für sie nicht möglich war etwas selbst oder ohne Hilfe zu tun. Sie ließ sich jedoch auch in verschiedenen Dingen bedienen, die sie sehr wohl selbst tun konnte, zB Getränke per Strohhalm anreichen, obwohl sie dies selbstverständlich allein konnte und dies auch regelmäßig unter Beweis stellte, wenn Henrik zB mit dem Hund draußen war: War jemand in der Nähe, der ihr beruflich oder freundschaftlich das Glas anreichen konnte, bat sie auch darum und verzichtete gerne darauf, es selbst zu tun. Und Paul reihte sich gelegentlich wohl gerne dabei ein und verzichtete ebenfalls hin und wieder gerne darauf, Dinge zu tun, die er tun konnte, zB sein eigenes Geschirr abzuräumen und zu spülen. Henrik sagte sich, dass es ja durchaus legitim sei, dass Viktoria diese Tätigkeit als Partnerin und Hausfrau komplett übernehmen wollen könnte, und da Henrik als persönliche Assistenz quasi ihre Arme und Beine ersetzte, fiel somit die gesamte Tätigkeit ihm zu. 
Später am Abend dann brachte er sie ins Bett, indem er sie im Rollstuhl vollständig entkleidete und ihr ein Nachthemd anzog, sie dann mit dem Lifter auf Toilette brachte, wo sie auch die Zähne putzte, sie dann im Intimbereich wusch und sie schließlich mit dem Lifter im Bett ablegte, zudeckte und mit allem nötigen versorgte. Paul machte sich ebenfalls bettfertig, meistens verbrachte er dabei viele Minuten am Handy auf der Toilette, duschte und gesellte sich dann zu Viktoria und übernahm dankenswerterweise alle übrigen pflegerischen Tätigkeiten, bis sie bereit war zu schlafen, sie also auf die Seite zu drehen und mit diversen Kissen abzustützen. Von Henrik gab es noch einen letzten Blick in die Küche - ihm selbst war wichtig, keine zu erledigende Arbeit auf den nächsten Tag zu verschieben - , den Lifter zum Aufladen an die Steckdose, alle Lichter ausschalten, dann machte er sich schließlich ebenfalls bettfertig, wobei er hierfür Kleidung anlegte, mit der er bei Bedarf auch mitten in der Nacht schnell aufstehen und Viktoria zu Hilfe eilen konnte, denn das war der Grund, warum eine Schicht auch die Nacht mit einschloss. Im Bett verfolgte er noch die Nachrichten des Tages und entspannte sich mit einem Kartenspiel auf dem Tablet. Als ihm die Augenlider schwer wurden, nutzte er diesen Moment als Ticket in den Schlaf. 
Er bewegte seine Gedanken um ein gewisses Segelprojekt, das ihn schon seit Monaten beschäftige, eine Art Kanu, das im weitesten Sinne aus Flaschen, Fischernetzen und Plane gebaut sein sollte, überwiegend Recycling, das an Land in Verbindung mit einem oder mehreren Fahrrädern eine Art Velomobil sein sollte. Immer wieder taten sich neue Fragen auf, und immer wieder entwickelte er in diesen Phasen vor dem Einschlafen Lösungen. Seit Sommer war so schon viel gediehen, virtuell. Tatsächlich gebaut hatte er nur ein kleines Element aus Flaschen und Katzennetz, einige Wochen schon war das her, als Machbarkeitsstudie, die zufriedenstellend ausfiel. Bestimmte schwerer wiegende, grundsätzliche Fragen waren noch ungewiss, auch deswegen war er im praktischen Tun noch nicht weiter gegangen. Dazu gehörten, aus welcher Quelle er am besten viele Flaschen würde bekommen können, welcher Formfaktor und welche Mischungen verschiedener Formen der Flaschen am besten geeignet sei, ob, wie, in welche Einzelteile und zu welchem Zweck das Vehikel am besten zu zerlegen sein sollte, denn je nach Bedarf sollte es zumindest einfach erweiterbar und verkleinerbar sein durch Hinzufügen und Wegnehmen verschiedener Flaschen und wie am besten Fahrräder würden darin ein- und umgebaut werden können, bevorzugt sogar so, dass in der Kanuversion ein Fahrrad als Antrieb für diverse Apparate zur Verfügung stand. Darüber schlief er schließlich ein.
Am nächsten Morgen lief der Dienst wie gewohnt und ohne Zwischenfälle ab. Beim gemeinsamen Frühstück, bis die Ablösung kam, äußerte sich Viktoria wie sonst auch oft über die vielfältigen Schwierigkeiten, die sie Tag für Tag mit allen möglichen Assistenten habe, und fragte sich, wann endlich die Zeit komme, in der alles reibungslos abliefe. Henrik stimmte ihr wie so oft zu und versuchte, die Situation zu entschärfen, indem er darauf verwies, dass seine Kollegen einschließlich ihm es ja nur gut mit ihr meinten und dennoch, weil sie ja alle Menschen seien, Missverständnisse und Fehler nun einmal kaum auszuschließen seien. In einem anderen Lebensalltag ohne Assistenz könne dies vergleichbar geschehen. Dann kam sein Kollege, die Schicht, eine Doppelschicht, war vorbei, und er sehnte sich nach seinem Zuhause, wo er erstmal die Füße würde hochlegen und nach diesem Dienst gründlich abschalten können.

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