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Kynosarges 2507

Sonntag Abend, 6. April, und mir kommt ein neuer Schreibimpuls.
Am 1. April hatte mich die Uni tatsächlich aus dem System genommen, weil eine Überweisung wegen des Semesterbeitrags auf ihrer Seite falsch verbucht wurde. Allerdings ließ sich dies bereits am 2. erfolgreich klären und am 3. war wieder alles repariert. 2. und 3. verbrachte ich mit kleinen Ausflügen mit meiner Mutter, das herrliche Frühlingswetter bot dies an. Am zweiten dieser beiden Tage waren wir in einer schönen kleinen Bibliothek eines milliardenschweren Fabrikanten. Die ausgestellten Bücher weckten in mir einerseits einen Schreibimpuls, andererseits wuchs auch erneut mein Interesse, in die geistigen Streifzüge anderer Jahrhunderte und Jahrtausende einzutauchen und zu sehen, was Menschen jener Zeiten uns heute Wahres und Relevantes sagen können per gedanklicher Zeitreise.
Am 4. dann machte ich mich auf den Weg zunächst nach Stuttgart, um eine meiner Schwestern mit ihren Kindern zu sehen - ein verhältnismäßig kurzer Besuch nur, aber immerhin mit mitgebrachtem Kuchen, der nur wenige Abnehmer fand - , und anschließend, in den Sonnenuntergang hinein, fuhr ich weiter zum Bodensee, um mein Boot aus dem Winterschlaf zu holen, mit etwas Unterbrechung, da unglücklicherweise ein Mensch einen tragischen Zwischenfall mit einer Bahn hatte und daher die Strecke für zwei Stunden gesperrt war. Immerhin spät nachts und unter dem klaren Sternenhimmel kam ich bei meinem Boot an, dem ein kräftiger Wind die Plane vom Dach gerissen hatte und bei dem etwas Regen eingedrungen war - alles nicht besonders schlimm, ließ sich nachts noch leicht beheben. Unter dem scheidenden Licht meiner Taschenlampe las ich noch einen Roman von Erle Stanley Gardner zuende, eher seichte Unterhaltung, die ich mir für die Reise mitgenommen hatte, und schlief dann wie gewohnt im Boot ein.
Den nächsten Morgen steckte ich mein digitales Endgerät in eine der wenigen Steckdosen auf dem Gelände des Landwirts, wo mein Boot steht, und machte mich mit dem Rad auf zum See, teils durch den Wald, eine schöne kleine Strecke weiterhin durch sprießende Frühlingsstimmung zum Nachbarort, wo ich ein kleines Frühstück einnahm und mich mit Stift und Papier ausführlich meiner Velo-Proa widmete. Am frühen Nachmittag, nachdem ich die Plane wieder befestigt hatte, verließ ich mein Boot und begab mich erneut auf den Weg nach Stuttgart, um eine weitere Schwester zu besuchen, die für den Nachmittag mit ihrem Partner in den Schrebergarten gegangen war. Am frühen Abend fand ich beide dort und hatte bis zu meiner Weiterreise zu meiner Mutter in der Nacht mit ihnen viele aufschlussreiche Gespräche, während wir handgemahlene Quiche machten und aßen. Kurz vor Mitternacht war ich wieder bei meiner Mutter und verbrachte mit ihr noch den halben folgenden Tag. Jetzt gerade bin ich im Zug auf dem Weg zu einer Zwischenstation für die Nacht auf dem Weg zu mir nach Hause.
Die Tage gab es mehrfach Anlass für mich, mit mir selbst ins Gericht zu gehen, teils sogar hart ins Gericht zu gehen, was letztlich der unmittelbare Impuls war für diesen Blogeintrag. Ich möchte versuchen, dies hoffentlich nachvollziehbar zu rekonstruieren: Ohne vorher eine Bahnverbindung herauszusuchen, verließ ich am späten Nachmittag die Wohnung meiner Mutter. Dies erwies sich als nicht sehr klug, denn Sonntagabend waren die Verbindungen etwas komplizierter, und wäre ich zB 10-15 Minuten eher losgegangen, hätte ich eine wesentlich einfachere Verbindung erreichen können. Nun war es wie es war; die mögliche Verbindung verspätete sich, der nötige Anschluss auf halber Strecke war nicht mehr erreichbar, also entschloss ich mich, auf diese Verbindung ganz zu verzichten und diejenige eine Stunde später zu nehmen, auf die ich letztendlich für mein Ziel für heute ohnehin angewiesen war, und suchte für die eine Stunde Wartezeit in der Stadt noch eine Möglichkeit für ein Abendessen. Die meisten Gastronomien, die ich fand, akzeptierten ausschließlich Bargeld, so dass ich, nur mit Kreditkarte ausgestattet, einen kleinen türkischen Gastronomiebetrieb aufsuchte, der mit meiner Kreditkarte zurechtkam. In der Küche hantierten mehrere von mir als türkisch gelesene Männer und eine Frau, die ich für eine geborene Deutsche hielt. Meine internalisierte rassistische und auch sexistische Maschinerie setzte sich in Bewegung, so dass ich diese Konstellation für beachtlich beurteilte. Gedanken wie "warum schließt sich eine Frau von uns denen an" konnte ich schnell wegfegen, zuletzt war ich gerührt, dass sie zeigte, oder nein, tat sie ja nicht, sondern machte einfach, ohne sich wahrscheinlich viel dabei zu denken: gelebte kulturelle Inklusion. Ich rede viel davon, wie die Menschen doch gut Grenzen überwinden und ein gutes Miteinander leben sollten, dabei grenze ich mich oft ab, fokussiere mich auf das Trennende, und halte weiter alles diskriminierende Denken und Fühlen in mir aufrecht. Kurz wurde mein Denken unterbrochen, als sie eine Lieferung vorbereitete und dem Fahrer erklärte, dass eine Lieferung in den Finkenweg, eine andere in den Frankenweg müsse, wobei sie dem türkischen Fahrer erklärte, dass Finkenweg wie die Blume und Frankenweg wie der Männername gemeint sei. Innerlich sträubte sich etwas in mir: Ein Fink ist ein Vogel, und die Franken sind ein Volk, meine Güte, so etwas sollte man doch wissen! Aber dann dachte ich, während ich mich hier klug fühle, sitze ich als ihr Kunde, in ihrem gut funktionierenden Betrieb, der real etwas schafft, nämlich Menschen satt macht und einer Familie einen Lebensunterhalt bereitet, und alles was ich vorzuweisen habe sind irgendwelche klugen Sprüche, die niemand braucht.
In der oben genannten Bibliothek hatte ich bereits einen Gedanken, mit dem ich elitäres, insbesondere mein eigenes intellektuelles Hirn-Gewichse kritisierte. Ich dachte an bestimmte Leute, die ich kenne, von denen ich annehme, dass sie in einer solchen Bibliothek wohl vor allem in Bilderbüchern blättern, auf jeden Fall aber wohl nicht in den philosophischen Äußerungen eines Seneca oder eines Augustinus schmökern und somit deren geistige Sphären kaum erfahren oder wertschätzen können würden. Ich fand das bedauerlich und empfand solche Literatur und solche Bibliotheken als kontra-inklusiv ("exklusiv" klingt missverständlich), wenn ihre Inhalte nicht allen Menschen zugänglich sein können. Diese Gedanken wurden mitbewegt durch eine Radiosendung jenes Tages über immersive Kunstausstellungen wie zB "Monets Garten", die mit großen Projektionen und VR-Brillen Kunst erlebbar machen wollen. Mich überzeugte in der Diskussion darum, dass immersive Ausstellungen Barrieren reduzieren, inklusiver sind, weil sie ein größeres Publikum anziehen und das geistige Schaffen eines Menschen leichter zugänglich machen und ich dachte, so eine Bibliothek müsste diesbezüglich auch Wege finden, und meine Philosophie letztlich auch - niemandem ist gedient, wenn seine Gedanken von niemand anderem aufgenommen werden können, und sowohl Sender als auch Empfänger, vor allem aber der Sender, sollten sich um gute Verständigung bemühen. 
Des Weiteren denke ich, vielleicht, oder sogar ganz sicher, ist es ja für ein erfolgreiches Leben sehr viel mehr wert, wenn man sich den täglichen Aufgaben erfolgreich stellen kann und will, ein relevantes Geschäft betreibt, sich durch Entschlussfreudigkeit und Tatkraft hervortut, als wenn man bis in alle Ewigkeit klug daher redet und selten etwas darüber hinaus erreicht. Tatkraft ohne viel Hirn-Gewichse kommt wenigstens zu etwas, während Hirn-Gewichse ohne viel Tatkraft kaum etwas schafft, denn selbst das Aufschreiben der Gedanken erfordert Tatkraft - nun ja, hier steht ja offensichtlich Geschriebenes von mir, doch vieles davon ist eher wirr, und die thematisch strukturierter angedachten Schreibprojekte ruhen eher. Und eine zerdachte Velo-Proa bringt mich nirgendwo hin, während eine gebaute, wenn vielleicht auch nicht perfekte, mich auf den Weg bringen kann, sowohl im direkten Sinn, als auch in dem Sinn, dass ich an ihr echte Korrekturen vornehmen kann. Wenn ich also im ersten Impuls dazu tendiere, andere zu bedauern, die nicht viel von Finken, Franken, Seneca oder Augustinus zu verstehen scheinen, so merke ich im zweiten Schritt, dass ich der bedauernswerte Zuschauer auf einer einsamen Insel bin, während die anderen ihr Leben anpacken und etwas daraus machen. 
Immerhin habe ich jetzt wohl zumindest einen definitiven Ansatz für mein Velomobil-Proa-Ausleger-Kanu, das ja auch stand alone fahrbar sein soll. Drei Flaschen in einer Netzröhre, fünf Netzröhren in einem Netz-Viereck, die Röhren so, dass sowohl dicke als auch dünne Flaschen passen würden und verspannt werden können, davon zwölf Elemente, je vier rechts, links und unten, lediglich Bug und Heck müssen sich beim Bau so ergeben, dass sie spitz nach oben zulaufen - damit könnte und sollte ich die nächsten Tage loslegen. Rechts und links dann noch ein Kenter-Stopp, denn wenn man sich in einem solchen Kanu bewegt, kann das leicht nach rechts und links schwanken. Der Boden soll drei Kuven bekommen, was vor allem durch geschicktes Verspannen der Netze geschehen soll. Ob es sinnvoll ist, jedem Segment ein eigenes Planensegment zu geben, wäre im nächsten Schritt zu testen. Ich stellte mir vor, dass dies zur gesamten Stabilität des Rumpfs beitragen würde, doch gibt es dann möglicherweise Probleme durch einströmendes Wasser. Dann wäre noch eine zweite Haut zumindest für den Unterwasserrumpf denkbar.
Für die Proa im weiteren Verlauf möchte ich mich beim Logistikbereich diverser Krankenhäuser nach dem Potenzial weiterer Flaschen erkundigen. Grob geschätzt, braucht die gesamte Velo-Proa mindestens 1000 Flaschen für beide Rümpfe und Zwischensteg . Außerdem werde ich versuchen, mit faltbaren Zeltstangen einiges zu erreichen, zB Mast, Segeleinfassung, Formstabilität, Dach uvm., und wie ich die Fahrräder unterbringe ist auch noch ein Rätsel wie auch deren Steuerung und Elektrifizierung. Irgendwann sollen Solarpaneele und Akkus am Kanu untergebracht werden, aber wie soll das sturmfest und wasserfest funktionieren?
Es geht nun auf Mitternacht zu und ich möchte schließen. Was die Tage ansteht, steht wohl bereits im letzten Blogeintrag. Morgen werde ich nach Hause kommen, meinen Schlüssel zurückfordern und die Nachbarn informieren und, wenn es Zeit gibt, mich nach Krankenhaus-Logistik erkundigen. Übermorgen kommt eine Doppelschicht, dann eine Verteilaktion und eine 30h-Schicht, dann sind die Osterferien. Ich drücke mir die Daumen, dass ich in der kommenden Woche die bisherigen 0,5er-Flaschen mit den Netzen verbaue und aus den Segmenten ein Kanu hinbekomme. 
Soweit...

Nachtrag: "Ist doch Geist und Verstand an den Tag legen nur eine indirekte Art, allen anderen ihre Unfähigkeit und Stumpfsinn vorzuwerfen."
Arthur Schopenhauer sagt damit, was ich an mir selbst als Arroganz, Ignoranz und Diskriminierung und damit auch als Irrtum kritisiere. 

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