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Identität, Inklusion, Potential

Drei Dinge kamen mir als Erkenntnisgewinn dieses Wochenende auf einer Tagung zur Peer-Beratung für Menschen mit Behinderungen:

- Identität: Im Zusammenhang mit einer Beratungstechnik, wie man über geschickte Fragestellungen Problem und Beratungsgrund eingrenzen könne, gab es auch einen Frageblock nach Utopien zB derart, dass man gefragt werden kann, wenn man drei Wünsche frei hätte, was man sich dann wünschen würde. In gespielten Situationen und auch im Gespräch über mögliche Antworten dazu fiel mir auf, dass zwar mehr Barrierefreiheit, Schmerzfreiheit und umfangreiche Unterstützung unter den Wünschen waren, aber nicht insgesamt von der Behinderung frei zu sein, was für mich in meiner Situation selbstverständlich ein Wunsch gewesen wäre. Während dies im Zusammenhang mit der einen oder anderen geistigen Behinderung nachvollziehbar scheinen mag, weil die geistige Einschränkung möglicherweise verhindert, sich geistige Nicht-Einschränkung (gibt es diese überhaupt? Sagen wir zumindest "geringere geistige Einschränkung so wie bei der Mehrheitsgesellschaft") überhaupt vorzustellen, also was dies letztlich bedeuten soll, so war ich doch überrascht, dass es scheint, dass für Menschen, die von Geburt an oder zumindest von frühen Lebensjahren an auch die körperliche Behinderung wie selbstverständlich als Teil der Identität betrachtet und nicht grundsätzlich hinterfragt wird, vielleicht auch, weil man sich selbst sich nicht vorstellen kann oder will zB als gesund auf zwei Beinen gehende Person, weil man befürchtet, dann nicht mehr man selbst zu sein. Ich versuchte mir behelfsmäßig vorzustellen ich würde allein und auf mich gestellt ohne viele soziale Kontakte in Saudi-Arabien leben. Ich spreche ziemlich fließend Englisch, bin freiheitlich demokratisch geprägt und um Feminismus und Gleichberechtigung bemüht. Wahrscheinlich würde ich in Saudi-Arabien nicht nur auf sprachliche Barrieren treffen, sondern auch auf etliche ideologische, die mir sehr zu schaffen machen würden. Dennoch würde ich in der Situation mit den drei Wünschen mir nicht wünschen, dass ich konservativ-patriarchal und muslimisch werde, nebst angepasstem arabischen Aussehen und Muttersprachlichkeit, denn dann würde ich, wohl zu recht, annehmen müssen, dass ich nicht mehr ich selbst bin, sondern ich würde mir wünschen, dass mein Umfeld offener wird und auf mich und meine Vorstellungen barrierefreier eingehen würde. Umgekehrt fällt mir jetzt in diesem Moment ein, dass dies dann natürlich auch für eine Person aus Saudi-Arabien gelten muss, die in unserer hiesigen Gesellschaft Fuß fassen möchte, also dass es einem Identitätsverlust zumindest gefühlsmäßig gleich kommen muss, würden sie (zu viel von) ihren(m) kulturellen Hintergrund aufgeben um sich an die hiesigen Umstände anzupassen. Natürlich ist dies kein neuer Gedanke, aber in diesem Zusammenhang noch einmal neu gedacht schafft er einen neuen Eindruck. Und ähnlich also wird es dieser meiner Erfahrung nach wohl auch mit Menschen mit Behinderungen sein: Ihre Behinderungen, zumindest einige wesentliche davon, sind wohl in dem Maße mit der Persönlichkeit verflochten, dass sie identitätsstiftend sein müssen.

- Inklusion: Im Zusammenhang mit einer anderen gespielten Gesprächssitustion äußerte eine schwerstbehinderte Person, dass sie mit einer speziellen Technik Bilder malt. Diese Information sorgte für einiges Aufsehen und Interesse und es kamen Nachfragen, ob ihre Bilder mal zu sehen seien. Eine andere Person, jemand ohne erkennbare Behinderung aus dem Bereich der Personen, die sich beruflich unterstützend für Menschen mit Behinderungen einsetzen, also aus dem Bereich Pflege, Assistenz oder Betreuung, wandte ein, dass es in einer bestimmten Örtlichkeit die Möglichkeit gibt, dass Menschen mit Behinderungen, die sich künstlerisch betätigen, ihre Werke ausstellen können. Bei dieser Äußerung fiel mir vor allem eine Sache auf: Inklusion scheitert oft nicht nur an den Menschen mit Einschränkungen, die aus Angst vor Zurückweisung oder aus Schüchternheit trotz vorhandener Barrierefreiheit nicht in die Mitte der Gesellschaft treten, sondern auch an denjenigen Menschen, die sich beispielsweise beruflich um sie und deren Inklusion kümmern wollen - und dies einfach ungeschickt verfehlen, indem sie in verkehrter Weise nach dem Prinzip "gleich und gleich gesellt sich gern" vorgehen und soziale Schutzräume zu weiteren Barrieren werden lassen. Ich dachte mir, Kunst ist Kunst. Warum kann man sie nicht einfach als Kunst ausstellen und betrachten, sondern muss sie in einer "Ausstellung für Behinderte" von der Allgemeinheit absondern? Ich fürchte, dass solche verkehrten Ansätze nicht nur wenig hilfreich sind, sondern Exklusion bestärken. Eine Freundin kam mit einem einleuchtenden Beispiel auf meine Erzählung: "Ach, Sie sind alt und schwerhörig? Na dann setzen Sie sich doch zu der Dame da drüben, die ist auch alt und schwerhörig." Ich hoffe es leuchtet ein, wie sinnlos das wäre.

Potential: Außerdem fiel mir auf, dass die Menschen mit Behinderungen, denen ich dort begegnete, vielfach ihr verfügbares körperliches aber auch technisches Potential, also den Rahmen, den ihnen ihre körperlichen Einschränkungen nebst der technischen Hilfsmittel, die ihnen zur Verfügung standen, in großem Umfang, also oft bis an die Grenzen des Machbaren ausnutzten. Dies erschien mir insofern als in hohem Maße beeindruckend, weil ich mich selbst damit verglich und mit großer Ernüchterung feststellen musste, dass ich mein Potential und die mir zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittel teils gar nicht, teils nur in kleinem Umfang ausnutzte, was mich in einer gewissen Betroffenheit zurückließ. Bis jetzt quält mich der Gedanke, ob und wenn ja wie und wie weit ich mein Potential erkennen, entwickeln und ausschöpfen könnte und was es bedeutet, für mich selbst und für den Menschen allgemein, wenn man dies unterlässt. Ich befürchte, meine Antwort wäre vernichtend.

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