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Horizonte

Wir alle, sowohl individuell als auch als Gruppe, sind immer Gefangene unseres Horizonts.

Ich betrachte ein kleines Stückchen Grasfläche, ein eingefasstes Beet inmitten einer Stein- und Asphaltwüste am Bahnsteig, aber genauso kann man wohl auch auf Verkehrsinseln usw. schauen:
Hier gibt es ein auf seine Umgebung abgestimmtes Biotop und es ist anzunehmen, dass etliche Lebensformen darin, sofern sie überhaupt Auffassungen von etwas haben können (wovon ich ausgehe), eine solche haben, dass die ganze Welt aus diesem Biotop besteht. Ihr Erkenntnishorizont reicht nicht bis an die Grenzen des Biotops, geschweige denn darüber hinaus. Deswegen wird es wohl auch keinen Begriff "Biotop" für sie geben, weil es für sie schon quasi das All ist.
In Anlehnung an meine Äußerungen zu Kleinstlebewesen in und um uns muss ich eigentlich ähnliches sagen: Das All eines Mitochondriums ist die Zelle in der es lebt und sich fortpflanzt. Das All eines Virions ist wohl der Tropfen Flüssigkeit, in dem es schwebt, und alle Biomasse darin.

Bei uns Menschen hängen die Grenzen der Welt sehr eng zusammen damit, was wir für erfahrbar und für vorstellbar halten. Während allerdings bei Tieren dies jeweils recht einheitlich vergleichbar sein müsste - eine Biene hat nicht unbedingt eine ziemlich andere Vorstellung der Welt als eine andere - kann dies bei uns Menschen ziemlich stark divergieren. Dass es bei uns Menschen so individuell verschieden sein kann, liegt an den verschiedenen Erfahrungen, die wir machen können. Bienen verfügen alle über weitestgehend die gleichen Sinnesorgane, die als Haupt- oder sogar einzige Quelle ihrer Erfahrungen dienen. Bei Menschen ist dies zwar vergleichbar, jedoch kommen beim Menschen Sprache und Denken hinzu, die den Erfahrungshorizont immens, vielleicht sogar unendlich weit erweitern können. Und hier werden Erziehung und Bildung sehr signifikant, denn auch wenn die meisten Menschen wohl auf vergleichbare Sinneseindrücke zurückgreifen können, so können sie selten auch auf gleiches Wissen zurückgreifen.
Wer nur sieht ohne zu wissen, sieht eigentlich nichts. Was weiß die Biene, wenn sie weiß, wo sie hinfliegen muss um Nektar zu sammeln? Weiß sie von Blumen? Oder greift sie womöglich nur auf die Erfahrung zurück, dass dieses oder jenes Farbmuster meist auch angenehm für den Geschmackssinn ist? Dann müssen wir davon ausgehen, dass unsere Wahrnehmung auf unterster Ebene wohl auch zunächst so abläuft, dass Muster erkannt werden, die mit der Erfahrung angenehmer oder unangenehmer Empfindungen einhergehen, und aus dieser Wahrnehmungsstufe entwickeln wir Begriffe, die in ihrer Verknüpfung untereinander zu größeren, übergeordneten Begriffen zu Wissen werden. Erziehung und Bildung beschleunigen dieses Verknüpfen von Begriffen, d.h. wir müssen nicht mehr jede Erfahrung selbst mehrfach durchmachen um daran zu lernen, sondern wir können die Ergebnisse dieser Prozesse anderer Generationen vor uns uns mittels Sprache und Denken aneignen. Dafür muss aber die jeweils erforderliche Begriffsgrundlage existieren, um daraus die nächste Ebene zu entwickeln. Wer nicht über die minimal erforderlichen Grundlagen verfügt, wird sich sonst phantastische Überbegriffe zusammenschmieden, die häufig mit den Begriffen, die von anderen mit fundierteren Grundlagen benutzt werden, wenig bis keine Übereinstimmung aufweisen.
Wir können vermutlich verschiedene Horizonte feststellen: Der Sprach- und Ausdruckshorizont ist wohl der kleinste, denn er hängt davon ab, was wir mit unserem Leib und möglicherweise weiterer Technologie an erfahrbaren Elementen bewusst gesteuert erzeugen und anderen zugänglich machen können. Der Begriffs- oder Gedankenhorizont ist größer, denn einiges, was wir denken oder wofür wir Begriffe haben, können wir nicht oder nur reduziert mitteilen. Noch größer ist wohl der Erfahrungshorizont, denn wir machen gewiss auch viele Erfahrungen, für die wir keine Begriffe haben oder über die wir nachdenken könnten. Und vielleicht ist der Empfindungshorizont noch größer, indem wir auch Dinge ohne vorherige Erfahrung empfinden. Zum Begriffs- oder Gedankenhorizont möchte ich noch Überlegungen zum Wissen hinzustellen: Es gibt Begriffe, über die wir verfügen und derer wir uns auch vollkommen bewusst sind. Dann gibt es Begriffe, über die wir verfügen ohne uns derer zwangsläufig tatsächlich bewusst zu sein. Hinzu kommen Begriffe, derer wir uns zwar bewusst sind, über die wir aber nicht verfügen. Und zuletzt gibt es die wahrscheinlich größte Menge der Begriffe, derer wir uns weder bewusst sind noch verfügen wir über sie. Zwischen all diesen Mengen, mehr oder weniger, verlaufen unsere Horizontlinien, die ich darüber genannt habe.
Diese Horizontlinien sind von Individuum zu Individuum, aber auch von Gruppe/Gesellschaft zu Gruppe/Gesellschaft verschieden und selbstverständlich auch zeitlich sowohl historisch als auch individuell biographisch verschieden. Dabei können sich definitiv historisch und womöglich auch individuell biographisch Horizonte wieder verengen, wenn Erfahrungen und Mitteilungen darüber sich verringern oder wenn Träger und Quellen sehr vielen Wissens verloren gehen.

Je mehr Bildung einem Individuum zukommt und je Wissen es sich aneignen kann, umso mündiger sollte es werden können, möchte man meinen. Sich also intensiv für Bildung einzusetzen sollte ein Gebot jeder entwickelten oder sich entwickelnden Gesellschaft sein.

Trotzdem wissen wir nicht, ob, bzw. können nicht ausschließen, auch die besten Wissenschaftler nicht, dass unsere Welt, unser All gewissermaßen wie eine Verkehrsinsel, wie ein Mitochondrium in seiner Zelle ist und dass "Welt" und "All" darüber hinaus gänzlich andere Gesetzmäßigkeiten und Qualitäten haben. Aber zum Glück haben wir unsere Phantasie...

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